Buch "Das Fleisch gehört dir, die Knochen mir", Bohmte/Norderstedt 2008
Auf die Idee, meine Erinnerungen schriftlich festzuhalten, brachte mich mein Schulleiter, Herr Litsche. An einem warmen Sommerabend saßen wir im Garten bei einem Glas türkischen Rotwein und sprachen über Schule und Schüler früher und heute, wie Lehrer das denn tun. Er meinte, ich solle das unbedingt aufschreiben, bevor es aus meinem Gedächtnis verschwindet.“ So beginnt Hasan Akinci sein 2008 erschienenes Buch „Das Fleisch gehört dir, die Knochen mir“, das seinen Migrations- und Integrationsprozess in Deutschland anschaulich beschreibt.
Geboren wurde Hasan am 26.Juli 1943. Er wuchs mit fünf Geschwistern in dem türkischen Dorf Çerkezköy auf. Nach Abschluss der Schule wurde er zum Grundschullehrer ausgebildet und unterrichtete Kinder in unterschiedlichen Orten der Türkei. Die unruhigen politischen Verhältnisse in den 1960er Jahren verängstigen Hasan. Ein sicheres und friedliches Leben hielt er in der Türkei nicht mehr für möglich. Heute erinnert er sich noch gut an diese Zeit: „Das war für mich ein Zeichen, dass ich da schnell abhauen sollte. Das habe ich auch gemacht.“ Aber es dauerte eine Zeit, weil Lehrer damals das Land nicht verlassen durften. Sie sollten in der Türkei bleiben. Auch als Fabrikarbeiter oder Arbeiter durfte Hasan nicht vermittelt werden. Erst durch Beziehungen konnte er sich in Istanbul einen Touristenpass besorgen.
So gelangte der damals 27-jährige am 4. April 1969 mit dem Schiff über Frankreich nach Deutschland. Zunächst arbeitete Hasan in einer Fabrik – illegal, ohne Arbeiterlegitimationskarte. Diese Arbeitserlaubnis hätte er nur im Vermittlungsbüro in Istanbul erwerben können, das ihn aber gar nicht hätte vermitteln dürfen. Später gab es die Möglichkeit, in Frankreich ein Arbeitervisum zu bekommen. Dadurch konnte Hasan seinen Aufenthalt in Deutschland legitimieren. „Als ich nach Deutschland wieder zu meiner Firma gekommen bin, hat man mich an eine Schleifmaschine gestellt. Bei jeder Kleinigkeit musste der Dolmetscher zu mir kommen und mir helfen zu übersetzen. Da habe ich mir vorgenommen: Du lernst jetzt Deutsch.“
Hasan besorgte sich aus der Türkei ein paar Sprachbücher. „Wir mussten damals elf Stunden am Tag im Akkord arbeiten. Danach bin ich nach Hause gekommen, habe mich saubergemacht, geduscht. Dann habe ich etwas gegessen und danach bis elf, zwölf Uhr Deutsch gelernt; allein.“ Das Schriftdeutsch begriff Hasan schnell, aber bei der Aussprache brauchte er Hilfe. Also fragte er den Sohn seines Vermieters. „Er bekam jeden Abend seine Tafel Schokolade. Irgendwann hat man mir gesagt: ‚Du Hasan, wenn du deutsch sprechen willst, ist das hier für dich die falsche Stelle. Wir sind Schwaben, wir sprechen schwäbisch. Fahr mal nach Norddeutschland, am besten nach Hannover oder nach Osnabrück. Da wird Hochdeutsch gesprochen.’ Das hab ich auch gemacht.“
In Hildesheim fand Hasan Akinci Arbeit in einer Stahlfabrik. Dort dolmetschte er nebenbei für seine türkischen Kollegen. Als er in Hannover seinen Pass verlängern lassen wollte, bot man ihm an, in Osnabrück als türkischer Lehrer zu arbeiten. Hasan nahm das Angebot an und konnte nun erstmals wieder offiziell seinen eigentlichen Beruf ausüben. Anfangs unterrichte er in Osnabrück, dann als Wanderlehrer in Georgsmarienhütte, Melle, Bohmte und Bad Essen. Er kam schließlich nach Bohmte und wurde danach nach Bad Essen versetzt, wo er von 1974 bis 2005 als Lehrer arbeitete.
Oft fühlte sich Hasan als türkischer Lehrer von seinen deutschen Kollegen nicht ernst genommen. Er fasste daher den Entschluss, nebenbei ein Studium zu beginnen, um ihnen zu beweisen, dass er doch „was drauf“ hat. Das Studium an der Universität Osnabrück schloss Hasan erfolgreich als Diplompädagoge ab.
Bis heute ist Hasan Akinci sehr engagiert. „Wenn ich so überlege, ich bin der erste große Idiot gewesen. Ich habe so viel getan. Aber andererseits: Echo habe ich immer. Unglaublich, was meine Schüler oder die Eltern heute für mich tun würden.“ Hasan wirft dem deutschen Staat vor, nichts für die Integration von Türken getan zu haben. „Ich bin immer noch wütend auf die deutsche Regierung, immer noch, seit 40 Jahren. Als die Russlanddeutschen hierher gekommen sind, haben sie sofort Sprachkurse bekommen. Kein einziger Ausländer, kein Türke hat hier kostenlose Sprachkurse bekommen. Ich hab die Frauen hier versucht zu alphabetisieren, ihnen die Sprache beizubringen, Männer zu alphabetisieren, ihnen Deutsch beizubringen, hab’ ich jahrelang versucht, keinmal hat Deutschland mir geholfen … nichts.“
Daher ergriff Hasan selbst die Initiative, um seinen Landsleuten zu helfen. „Meine Frau und ich haben uns engagiert. Meine Frau hat türkische Frauen zum Frauenarzt gebracht. Sie hat da gedolmetscht. Bis heute macht sie das immer noch, wenn die Töchter sich schämen. Ich hab für Männer, Frauen und Kinder Sprachkurse angeboten und türkischen Müttern, die nicht lesen und schreiben konnten, habe ich Alphabetisierungskurse angeboten. Ich bin immer präsent gewesen und habe geholfen, damit sie sich zurechtfinden konnten bei der Krankenkasse, bei der Bank, bei der Polizei, bei der Ausländerbehörde. Erst als die zweite Generation die Schule verlassen hat, Deutsch gelernt hat, konnten die Familien sich selbst helfen.“
Bis es jedoch soweit war, blieb es für die Zugewanderten sehr schwierig. Hasan nennt ein Beispiel: das Telefon. „Der einzige Türke, der damals hier im Wittlager Raum ein Telefon hatte, war ich. Und die Türken haben das auch mitgekriegt. Ein Haustelefon war in der Türkei unvorstellbar. Wenn wir dort früher telefonieren wollten, mussten wir zur Post gehen und unser Telefonat anmelden. Dort stand ein Apparat, und man wurde weiterverbunden. Aber ich hatte nun ein Telefon zuhause mit einer großen Wählscheibe von null bis neun. Und dann haben die irgendwie spitz gekriegt, dass ich mit der Türkei, mit meinen Verwandten in der Türkei sprechen kann. Dann haben sie mich gebeten, ob sie mal eine Oma oder einen Onkel oder Papa anrufen könnten. Ich war ja kein Postamt, ich konnte kein Geld verlangen, aber die haben mir auch kein Geld gegeben. Deshalb habe ich ein Telefon mit Zähler besorgt. Dann haben sie gesagt: ‚Ich gebe dir das später, wir sehen uns.’ Es ist soweit gekommen, dass ich Telefonrechnungen über 900 DM bezahlen musste. Mein Monatsgehalt war 1.240 DM. Schließlich habe ich das Telefon abgemeldet.“
Heute ist Hasan 68 Jahre alt und Rentner, hat aber immer noch viel als Dolmetscher zu tun. Er fühlt sich in Deutschland heimisch und geborgen, sieht sich aber gleichzeitig immer noch als Türke, obwohl er nach eigenen Aussagen den Bezug zur Türkei weitgehend verloren hat. Hasan ist Befürworter der pluralistischen Integration. Man soll nicht nebeneinander leben, sondern miteinander. Seine Religion ist zwar der Islam, doch Hasan tendiert zum Säkularismus, der Trennung von Staat und Kirche. Jeden Morgen am Frühstückstisch werden erst die deutschen und dann die türkischen Zeitungen gelesen. So gelingt Hasan der Spagat zwischen Integration und dem Erhalt seiner Identität. Und nach dem Motto „Das Fleisch gehört dir, die Knochen mir“ denkt und träumt er bis heute auf Türkisch, denn sein Gehirn sei noch nicht eingedeutscht. „Ich bereue nichts. Ich habe es richtig gemacht“, sagt Hasan Akinci.
(Karina Gordok)
Titel: „Das Fleisch gehört dir, die Knochen mir“. Lebenserfahrungen eines türkischen Lehrers
KünstlerIn/HerstellerIn: Hasan Akinci (Autor)
Material/Technik: Buch, Print on demand
Herstellungsort: Bohmte/Norderstedt
Datierung: 2008
Maße: 21 x 14,8 x 2 cm
Aufbewahrungsort: Osnabrück, Kulturgeschichtliches Museum, A 5657
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