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12. Stempel „Ausländer“

Anmeldebestätigung "Ausländer", Städtisches Ordnungsamt, Osnabrück 1959

Ein unscheinbarer, kaum 10 cm langer, geknickter und leicht zerknitterter Papierstreifen trägt in fetter Tinte den Stempel „Ausländer“. Mit dem amtlichen Dokument wurde einem am 13. April 1920 in Ungarn geborenen Chemiker von der Osnabrücker Ausländerbehörde bestätigt, dass er sich bei seiner Ankunft in der Stadt ordnungsgemäß angemeldet hatte. Auf der Rückseite ist auch der Rest der Familie aufgeführt: seine Ehefrau, sein Sohn und seine Tochter. Der Stempelaufdruck signalisierte den Beamten den besonderen Status der Familie. Was führte sie nach Osnabrück?

Der Ungarische Aufstand von 1956

Wenige Jahre zuvor hatte es in Ungarn einen Aufstand gegeben. Am 23. Oktober 1956 entwickelte sich in Budapest aus einer Studentendemonstration, der sich weite Teile der Bevölkerung anschlossen, ein bewaffneter Aufstand. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren im November 1945 im sowjetisch besetzten Ungarn verhältnismäßig freie Wahlen abgehalten worden, bei denen die Kleinlandwirte-Partei 57 Prozent, die Sozialdemokraten 17,4 Prozent, die Nationale Bauernpartei 6 Prozent und die Kommunisten 17 Prozent der Stimmen erhalten hatten.

Nach dem Tode Stalins wurde Imre Nagy, der später der Held und das Opfer des Volksaufstandes werden sollte, Ministerpräsident. Er versuchte, Erleichterungen zu schaffen, sorgte für eine Amnestie, für die Auflösung der Internierungslager und die Aufhebung des Deportationsbeschlusses. Das Leben in Ungarn wurde menschlicher. Bauern durften aus den LPG’s austreten. Doch schon Anfang 1955 wurde Imre Nagy wieder gestürzt, später auch aus der Partei ausgeschlossen. Zwar wurde das stalinistische System nicht zur Gänze wiederhergestellt, aber es gab viele Schritte in diese Richtung. So wurde dem Volk klar, dass jedes Zugeständnis gefährdet war, solange die alte stalinistische Garde an der Spitze der Partei blieb, das Einparteiensystem weiter bestand und Ungarn von sowjetischem Militär besetzt war.

Um Imre Nagy bildete sich eine Gruppe hauptsächlich kommunistischer Intellektueller. Nagy verfasste fortgesetzt Stellungnahmen über die notwendigen Reformen. Im November 1955 reichten Intellektuelle, vor allem Kommunisten, und das Zentralkomitee der KP im Politbüro der Partei eine Petition ein, in der sie mehr Freiheit für die Bürger Ungarns forderten. Daraufhin übte man von Seiten der KP-Führung erheblichen Druck auf sie aus. Wer in seiner Haltung nicht nachgab, wurde bestraft.

Auf dem XX. Kongress der Sowjetischen KP im Februar 1956 übte Chruschtschow in seiner Rede harte Kritik an Stalin. Er ging sogar so weit, viele der von Stalin begangenen Verbrechen offen zu legen. In einer Geheimsitzung am 25. Februar gab er die von Stalin begangenen Verbrechen den Leitern der KP-Organe bekannt. Durch ein in den Westen geschmuggeltes Exemplar der Mitschrift wurden seine Aussagen einer breiten Öffentlichkeit bekannt.

Im März 1956 wurde in Ungarn der Petöfi-Kreis ins Leben gerufen, in dem über heikle Fragen der vergangen Jahre des kommunistischen Regimes und über die wichtigsten Probleme und notwendigen Reformen diskutiert wurde. Am 28. Juni gab es zudem im polnischen Posen einen Aufstand, der Forderungen nach besseren Lebensverhältnissen, besserer Versorgung, aber auch nach mehr Freiheit für die polnischen Bürger forderte. Der Aufstand wurde zwar binnen weniger Stunden blutig niedergeschlagen. Die Strafen für die Aufständischen fielen aber relativ milde aus. Das zeigte, dass viele in Armee und Polizei mit den Aufständischen sympathisierten.

Die Familie flieht aus Ungarn

Das ermutigte offenbar auch die ungarischen Studenten, für ihre Interessen zu demonstrieren. Am 4. November 1956 begann der Einmarsch der Sowjetunion in Ungarn. Ende Dezember 1956 gab es kaum mehr Gegenwehr. Gegen das aufständische Volk schossen ungarische und sowjetische Soldaten in die wehrlose Menge und es begann ein systematischer Terror. Der Chemiker war aufgrund seiner leitenden Funktion in seinem Betrieb gefährdet. Gleichzeitig wagten ca. 200.000 Menschen zwischen Dezember 1956 und Januar 1957 die Flucht über die noch unbewachten Grenzen von Österreich und Jugoslawien, bevor die Grenzen etwa ab dem 25. Januar 1957 systematisch gesperrt wurden. In diesem letzten Moment gelang auch der Chemikerfamilie die Flucht. Die Tochter erinnert sich im Rückblick:

„Meine Eltern beschlossen im November 1956 die Flucht nach Deutschland, konnten aber wegen meiner Scharlach-Erkrankung und der meines Bruders erst am 25. Januar 1957 die Flucht antreten. Mein Bruder war zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt und ich fünf. Zusammen mit meinem Onkel reisten wir mit dem Zug. Die Flucht war als Wochenend- bzw. Hochzeitstripp getarnt. Wir hatten von Anfang an mehrere treue Helfer auf unserer Flucht.“ Bei dem Leiter einer Fischereizucht übernachteten sie in einer im Wald gelegenen Wohnung. Am nächsten Tag fuhren sie in den Morgenstunden von dort aus mit dem Pferde-Schlitten weiter.

„Lange Zeit begegneten wir niemandem. Wir erreichten einen Weinberg, wo einige Leute feierten und tranken. Diese sagten, dass wir in der richtigen Richtung fuhren. Kein Mensch kam uns entgegen, bis wir die Straße vor dem Bahnhof erreichten. Dort wartete ein Postbeamter auf uns. Noch am selben Abend kam ein Mann, der uns zur Grenze führte. Als wir nachts nahe der jugoslawischen Grenze waren, verabschiedete er sich von uns und wies uns den Weg, den wir im hohen Schnee nehmen sollten.

Nach stundenlangen, beschwerlichen Fortkommen im hohen Schnee und menschenleeren Landschaften hielt uns ein jugoslawischer Soldat plötzlich aus dem Dunkeln ein Maschinengewehr vors Gesicht (mein Vater trug mich auf dem Arm) und rief „STOJ!!!“ (Stehen bleiben!) Diese Szene bereitete mir noch Jahrzehnte lang Albträume. Wir blieben wie versteinert stehen und er nahm uns in Gewahrsam. Von dort aus kamen wir in ein Lager und anschließend nach Lovran.“

In Deutschland

In Deutschland war der Chemiker eine begehrte Fachkraft. Seine Kontakte zu deutschen Kollegen, die er 1956 auf der ‚Photokina‘ in Köln knüpfen konnte, halfen nun. Die Kollegen erfuhren bereits im Januar/Februar 1957 von der Flucht des Chemikers und boten ihm, vermittelt durch das „Rote Kreuz“, eine Stelle in Düren an. Dort angelangt, stellte er am 9. Mai 1957 für sich und seine Familie beim Flüchtlingsamt einen Antrag auf Ausstellung eines Ausweises für Flüchtlinge.

Eine gutes Jahr später, am 20. Juni 1958, wurde die Familie von der „Bundesdienststelle für die Anerkennung Ausländischer Flüchtlinge“ in Nürnberg offiziell als Flüchtlinge anerkannt. Bereits im Frühjahr 1958 hatte der Vater die Arbeitsstelle gewechselt und arbeitete fortan für eine Osnabrücker Papierfabrik. Dorthin zog die ganze Familie. Die Tochter erinnert sich in der Rückschau an die Situation dort:

„Nach meinem Wissen kamen insgesamt 28 ungarische Flüchtlinge (davon 2 Familien mit 2 kleinen Kindern; die restlichen Erwachsenen waren ca. 18 Jahre alt) nach Osnabrück und Georgsmarienhütte. Diese bemühten sich schnell um Arbeit, um eigenes Geld zu verdienen; sie lernten schnell Deutsch und machten eine solide Ausbildung. Beruflich sind viele beim OKD oder anderen Firmen oder als Lehrer untergekommen. Um den Zusammenhalt zwischen den geflohenen Ungarn zu festigen, gab es etwa alle zwei Monate eine ‚ungarische Messe‘. Viele der ‚Neu-Osnabrücker‘ heirateten jung und gründeten Familien, die sich problemlos integrierten.

Die Osnabrücker (Privatleute und Behörden, Institutionen) haben die Ungarn 1957/1958 sehr herzlich aufgenommen. Nur wir Kinder hatten sehr große Probleme mit den ‚Pädagogen‘ in der Schule: Wir konnten nicht so schnell deutsch sprechen, lesen, schreiben etc. Verständnis oder gar Unterstützung seitens der deutschen Lehrer gab es nicht. Sie bekundeten nach meiner Erfahrung weder Interesse an unserer Person noch an unserem Schicksal. Besonders befremdlich für mich war es, als in der Schule einmal ein ungarischer Tanz aufgeführt werden sollte. Der Lehrer wählte dafür aber nicht mich als gebürtige Ungarin aus, sondern eine dunkelhaarige Klassenkameradin. Ich war ihm zu blond.“

Dieses Erlebnis, das auf merkwürdige Weise ihre ungarische Identität in Frage stellte, muss für das junge Mädchen sehr verstörend gewesen sein in einer Lebenssituation, in der sie sich in einer neuen, ihr noch fremden Umwelt zurechtfinden musste. Aber dies hinderte sie nicht daran, ihren Weg zu gehen. 1973 erhielt sie vom Regierungspräsidium in Osnabrück ihre Einbürgerungsurkunde überreicht. Zuvor musste sie dazu aus ihrer ungarischen Staatsbürgerschaft entlassen werden. Fortan war sie Staatsbürgerin der Bundesrepublik Deutschland.


Steckbrief

Titel: Anmeldebestätigung „Ausländer“
KünstlerIn/HerstellerIn: Städtisches Ordnungsamt, Ausländerabteilung
Material/Technik: Papier, Druck, Handschrift
Herstellungsort: Osnabrück
Datierung: 6. Mai 1959
Maße: ca. 9 x 3 cm
Aufbewahrungsort: Klara Beaufays, Osnabrück

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